Das Charisma des Wettbewerbs
Preisrede auf den Alexandra Lang-Jugendkunstpreis Rheinland-Pfalz am 19. Mai 2014 in Mainz
von Kurt E. Becker
Kunst ist ein Charisma. Und der Wettbewerb um Kunst ist ebenfalls ein Charisma.
Die erste These muss wohl nicht weiter begründet werden, die zweite dagegen sehr wohl.
Werfen wir deswegen zunächst ganz kurz einen Blick auf das Wort „Charisma“.
Wörtlich übersetzt heißt Charisma „Gnadengabe“. Als Begriff eine Erfindung des Apostels Paulus meint Charisma das Geschenk einer besonderen Begabung, die uns ein Gott, im konkreten Fall der christliche Herrgott, zuteil werden lässt. Näheres dazu lässt sich im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther nachlesen.
Charisma in unserem quasi modernen Verständnis ist immer sozialpsychologischer Natur, ein Beziehungs-Phänomen somit. Wir stehen in Beziehung zu Gott. Der macht uns ein Geschenk. Es ist unsere Aufgabe, mit und an diesem Geschenk zu arbeiten. Zum Beispiel wird uns ein Talent geschenkt. Dieses Talent zu entfalten, ist uns Aufgabe oder sogar Berufung. Wir sind berufen zum künstlerischen Schaffen. Was aber heißt das konkret, Künstler zu sein? Vielleicht sogar ein Leben als Künstler zu führen? Eine spannende Frage mit vielen Dimensionen, von denen ich nur wenige kurz antippen kann.
Zunächst: In einem jeden charismatischen Prozess sind es Eingebungen, die das Charisma zur Entfaltung kommen lassen. Auch und gerade das künstlerische. Dem paulinischen Ursprung nach sind diese Eingebungen göttlicher Natur, im modernen Verständnis können sie natürlich auch Eingebungen unseres eigenen Selbst, unserer Ideenwelt, unserer Phantasie sein. Die Verarbeitung dieser Eingebungen in künstlerischer, handwerklicher oder sonstiger Art können wir als Kreativität bezeichnen.
Die charismatische Energie des Künstlers speist sich also aus Eingebungen, die wiederum eine Dynamisierung von Gefühlen an Gedanken und von Gedanken an Gefühlen bewirken. Wir sind, wer wir sind, was wir sind und wie wir sind durch diese gegensätzlichen Kräfte, die in unserem und durch unser Charisma gebändigt und im konkreten Fall in Kunst transformiert werden. Der Künstler folgt dabei einem spezifisch eigenen Weg, seinem Weg, einem Weg also, den nur er selbst, er allein gehen kann. Wie jeder Mensch im Übrigen. Das drückt der Begriff „Individuum“ aus. Dieser Weg, unser Weg, fällt uns zu oder wird uns geschickt, er ist das Spezifikum unseres Lebens – speziell des künstlerischen. Dieser Weg ist keine Autobahn, er verläuft auch nicht schnurgerade. Wir müssen um ihn kämpfen. Der Künstler sicher noch mehr als andere Menschen. Das ist sein Privileg einerseits, eine Herausforderung der besonderen Art andererseits. Und damit komme ich zu meiner These vom Charisma des Wettbewerbs.
Die These vom Charisma des Wettbewerbs lässt uns mehr als zweieinhalb Jahrtausende zurückschauen – in eine Region, die wir heute noch Kleinasien nennen. In Ephesos lebte dort Heraklit, den wir auch den „dunklen“ Philosophen nennen. Er hat uns ein Fragment hinterlassen, das quasi alle Philosophen nach ihm in einer je spezifisch eigenen Art immer wieder neu in den Blick nehmen. Der Kampf sei der Vater aller Dinge, behauptet Heraklit. Was ist mit diesem dunklen Wort gemeint?
Das Wort meint einen Kampf der besonderen Art. Diesen Kampf nämlich kämpfen wir an vorderster Front –mit uns selbst, mit unserem eigenen Selbst. Wir ringen mit uns auf der Suche nach unserer Identität als Menschen. Wer bin ich. In Bezug auf mich selbst, auf mein eigenes Selbst? In Bezug auf andere? Wodurch werde ich wesentlich, wodurch unverwechselbar? Was unterscheidet mich von anderen? Was mache ich besonders gut, was besonders gern? Warum handle ich in einer bestimmten Art und Weise und nicht anders? Was kann ich über mich selbst, über mein Selbst wissen. Was darf ich von mir selbst, von meinem Selbst erhoffen? Was soll ich tun, damit ich mir selbst, damit ich meinem Selbst gerecht werde?
Für die Künstlerin und den Künstler haben diese Fragen eine besondere Qualität. Der Künstler kämpft einen besonderen Kampf im Wettbewerb mit einem Ideal, das er von seiner Kunst und von einem speziellen Kunstwerk in sich trägt. Er ringt um Strukturen, Funktionen, Worte, Noten, Klänge, Farben, Pinselstriche und so weiter. Im inneren Wettbewerb des Könnens mit dem idealen Sollen entsteht ein Ringen der besonderen Art, ein Charisma der besonderen Art, weil uns im Ringen um Wesentliches tiefe Blicke ins eigene Selbst ermöglicht werden und genau von dort etwas an die Oberfläche geschafft wird, etwas erschaffen wird, das es so noch nicht gegeben hat. Genau dies beschreibt die Arbeit des Künstlers und genau dies unterscheidet unter anderem die Arbeit des Künstlers von der etwa des Lohnarbeiters in einem Wirtschaftsbetrieb. Letzterer leistet per definitionem eine entfremdete Arbeit, ist seinem Selbst entfremdet, er leistet fremde Arbeit, eine Arbeit, die ihm zugewiesen wird, nichts also, was ihm wesentlich eigen ist – auch der Lohn, den er erhält für die Zurverfügungstellung seiner Arbeitskraft, ist zwar sein Eigentum, aber deswegen ist er ihm noch lange nicht eigen. Der Lohn ist Mittel, nicht Zweck. Der Künstler dagegen trägt den Zweck an sich mit sich und in sein Kunstwerk hinein, hat kraft seiner Talente das Privileg, das Charisma, sich selbst sein zu dürfen und in der Entfaltung dieses Selbst Wesentliches zu schaffen. Im künstlerischen Schaffen sind wir, wie wir sind. Und wir schaffen, was wir sind.
Als Menschen stehen wir immer aber auch im Wettbewerb mit anderen Menschen. Hier reiht sich der Künstler ein in ein Prinzip der Spezies. Das Sich-aneinander-Messen, das Sich-mit-anderen-Vergleichen, gehört zur menschlichen Natur und ist insofern ein wesentliches Momentum von Kultur. Kultur ist die menschliche Natur. Und der Künstler ist der wesentliche Protagonist dieser Kultur. Er steht im steten Wettbewerb mit Seinesgleichen. Nicht in einem alltäglichen Sinn um Karrieren, Lohn oder Brot – dies freilich auch, denn auch Künstler sind „nur“ Menschen und kennen genau wie andere Missgunst und Neid. Der hier wesentliche Aspekt jedoch des künstlerischen Wettbewerbs geht – quasi außeralltäglich – um Qualitäten, Wesentliches, um Zwecke und Werte.
In einer meiner Universitäten, in denen ich vor vielen Jahren als Student ein- und ausging, stand über der Pforte: „Dem Wahren, Guten und Schönen“. Was ist das Wahre, was ist das Gute, was ist das Schöne in der heutigen Zeit. Wie verhält sich das Gute zum Wahren, das Wahre zum Schönen, das Schöne zum Guten? Wann und wo und zu welchem Zeitpunkt ist der Künstler zum Beispiel als Kritiker gefragt? Als Kritiker der Gesellschaft, die ihn nährt? Auch der Künstler braucht das Reich der Notwendigkeit, um mit Karl Marx zu sprechen, damit er sich im Reich der Freiheit entfalten kann. Was aber konkret heißt dies in einer Welt, die von Ökonomisierung und von Kommerzialisierung auf breitester Front quasi totalitär erfasst wurde – jeder von uns und alles. Auch die Kunst und künstlerisches Schaffen. Der Kunstmarkt ist heutzutage ein Markt wie jeder andere auch. Künstler und Galeristen kämpfen um Marktanteile und sind erpicht darauf, für die jeweils infrage kommenden Kunstwerke möglichst hohe Preise zu erzielen. Wie noch niemals zuvor in der Kunstgeschichte definiert sich das Oeuvre einer Künstlerin, eines Künstlers über seinen Geldwert. Dies in Abrede stellen zu wollen, hieße, den Kunstmarkt und seine Gesetzmäßigkeiten – und das sind die des kommerziellen Wettbewerbs – nicht verstanden zu haben. Und mehr noch: Die Ökonomisierung der Kunst greift tief hinein in die Entwicklung der werdenden Künstler, richtet sie möglichst früh ab für die Zwecke des Kunstmarkts. Und damit verbunden ist die sicherlich problematischste aller Entwicklungen: die schleichende Entfremdung der künstlerischen Arbeit zum Zweck der Gewinnerzielung. Der Künstler ist nicht mehr Zweck an sich im künstlerischen Schaffen. Er wird instrumentalisiert im Dienst des Kapitals. Oft von Kindesbeinen an. Sportlerinnen und Sportlern vergleichbar, die frühestmöglich in ihrer Entwicklung zu „Champions“ gezüchtet werden – unter Vernachlässigung aller Aspekte der körperlichen Gesundheit und der Gesunderhaltung. Vergleichbares gilt durchaus für die psychische Gesundheit der werdenden Künstler.
Das Charisma des Wettbewerbs, wie ich ihn verstanden wissen möchte, freilich ist anderer Natur. Und steht im Gegensatz zum kommerzialisierten Wettbewerb. Bei den alten Griechen gehörte der Wettbewerb, Agon also, zum Bildungskanon mit dazu. Bildung, sich zu bilden, war immer auch Wettbewerb mit anderen, natürlich oder kultürlich begrenzt – je nach Blickwinkel von Arete, der Tugend. Wir würden heute in diesem Zusammenhang von „fair play“ sprechen. Motto: Ohne Wettbewerb keine Tugend – und die Tugend erfährt ihren Sinn im Wettbewerb. Mehr noch. Im so verstandenen Wettbewerb verschieben sich auch die Grenzen der Selbstwahrnehmung. Es werden neue Werte und Wertmaßstäbe geschaffen. Die Kunst entwickelt sich mit ihren Schaffenden. Der Wettbewerb wird zum Bildungsvehikel, das den Einzelnen zu neuen Ufern trägt, indem ihn seine Protagonisten als individuell Schaffenden respektieren und ernst nehmen.
Damit ist auch der Gegensatz zum kommerzialisierten Wettbewerb im ökonomiegeprägten Verständnis unserer Welt umrissen. Der nämlich ist oft geprägt von Respektlosigkeit gegenüber dem Künstler und seinem Werk und einer damit einhergehenden Banalisierung und Verdinglichung. Da hat doch der Wettbewerb zum Beispiel um den Alexandra Lang- Jugendkunstpreis hier in Rheinland-Pfalz ganz andere Qualitäten. Nicht zuletzt menschlicher Art. Letztlich kennt dieser Wettbewerb nur Sieger, weil die Förderung von Talenten zu seinen Grundprinzipien gehört. Bestes Beispiel dafür: der Workshop in Hennweiler, den wie so vieles Frau Lang ermöglicht hat, und dessen Ergebnisse, die wir in der heutigen Ausstellung sehen dürfen.
Die Erfahrung dieses Workshops in Hennweiler war für Euch alle ganz ohne Frage verbunden mit einem Lernen der besonderen Art und verbunden mit der Einsicht, dass im Vergleich des eigenen Schaffens mit dem Schaffen anderer Künstlerinnen und Künstler künstlerischer Mehrwert entstehen kann, jeder von einem solchen Vergleich profitieren kann. Das Voneinander-lernen-können, die Eingebung im Wettbewerb, im sich-aneinander-Messen ist ein Wert an sich. Und das generationenübergreifend. Die Jungen lernen von den Älteren, die Älteren von den Jungen – und alle zusammen wieder von den Alten, die diesen Wettbewerb initiiert haben.
Unter den Initiatoren findet sich mein „alter“ Freund Eberhard Grillparzer, mit dem mich ein natürlicher Wettbewerb seit Schülertagen verbindet. Und dieser Wettbewerb ist uns beiden sehr gut bekommen und bekommt uns heute noch – weil wir uns in experimenteller Freude nach wie vor ergänzen.
Wenn Ihr, liebe Preisträgerinnen und Preisträger, Euren Platz im künstlerischen Leben unserer Zeit, Eurer Zeit gefunden haben werdet, blickt Ihr vielleicht in einigen Jahrzehnten auf den Wettbewerb um den Jugendkunstpreis Rheinland-Pfalz zurück, auf den Hennweiler Workshop und die heutige Veranstaltung – und vielleicht habt Ihr nicht nur Inspiration und Anregung aus diesem Wettbewerb mitgenommen – und damit dessen Charisma erfüllt – sondern auch lebenslange Freundschaften, die Euch als Wettbewerber in einem menschlich künstlerischen Wettbewerb begleiten - und das jenseits von facebook.